Mitte der 80er Jahre stand der westdeutsche Mitinitiator des hier beschriebenen Bildungsprojekts, Reinhart Brüning, mit seinem Verhältnis zur DDR keineswegs als etwas besonderes da. Er beschreibt dies sogar mehr als ein „Nichtverhältnis“: keine Ostverwandtschaft und auch praktisch keine privaten Ostkontakte. Es herrscht das offizielle Bild vor, dessen Prägung unverkennbar noch Züge aus der Zeit des kalten Krieges trägt. Dem Physik- und Theologiestudenten im fünften Semester drängen sich Fragen auf: War die DDR tatsächlich lediglich das Land, das auf der Klassenfahrt vor allem durch die Grenzbefestigungen und die Selbstschussanlagen in Erscheinung trat? Gab es hier, wie die Lehrer erklärten, nur unterdrückte, sozialistisch gleichgemachte Opfer und auf Täterseite Diktatoren im kommunistischen Gewande? „Die Vielzahl der Stereotypen machte mich misstrauisch“, so erklärt er.
„Ich wollte wissen, was das für Menschen waren, die zwar die gleiche Sprache sprechen, aber zu der feindlichen Welt des ‘Russendorfes’ gehörten, auf das ich bei meinem Grundwehrdienst zum Übungsschießen angehalten worden war.“
Er fragte sich, wie wohl ihr Alltag aussehen mag, welche Zukunftsträume sie hegen mögen. Interessant war für ihn auch zu wissen, wie weit der staatliche Einfluss ins Alltägliche hineinreicht. Was alles umfasste die Palette der staatlichen Einflussnahme? Welche Rückzugsnischen boten sich den DDR-Bürgern? „Mich interessierte weiterhin, ob es abweichend von dem mir vermittelten DDR-Bild, nicht auch positive Bereiche gibt, die eine Vorbildfunktion für meine BRD-Heimat besitzen könnten.“
Da Brüning im Bereich der evangelischen Kirche aktiv war, lag seine Neugier auf die „Kirche im Sozialismus“ auf der Hand. Er entschloss sich, begleitet durch Vor- und Nachbereitungsseminare des „Evangelischen Jugenddienstes für Ost-West-Begegnungen“ (EJD), der dann auch als Zuschussgeber in der ersten Phase des Projekts fungieren wird, ein Gemeindepraktikum in der DDR zu absolvieren. Nordhausen bot sich für ihn als Praktikumsort an, da er bereits durch einen Kurzbesuch mit einem evangelischen Posaunenchor dort erste DDR-Kontakt geknüpft hatte.
Stellvertretend für eine östliche Perspektive schildert Mitbegründerin Elke Kramer, dass es eine Neugier auf die Menschen war, die bewirkte, dass sie sich für das Projekt interessiert: „Das sind Menschen, mit denen ich einiges Gemeinsames habe, deren Lebensweise und Lebensraum ich aber nie selbst anschauen kann. Ich hatte zwar einige Westkontakte über Familie und kirchliche Aktivitäten, aber das besondere bei unserem Projekt war es, eine ganze Gruppe aus dem Westen in ihrer Vielfalt zu erleben, gemeinsam an einem Thema zu arbeiten und das über einen längeren Zeitraum.“
Das hatte Elke Kramer vorher nicht erlebt: „Bei den üblichen Begegnungen mit Leuten aus der BRD kam man bei der kritischen Betrachtung der beiden Staaten nicht über Reisefreiheit und Konsumangebot hinaus, und das brachte mich als die Ostlerin dann immer in eine bemitleidenswerte Position.
Die Seminare mit der gemeinsamen thematischen Arbeit bargen für Kramer die Hoffnung: