Um den Hintergrund des Bildungsprojekt verstehen zu können, ist ein Blick auf die beiden Initiativkreise in Ost und West notwendig, dem „Mittwoch-Abend-Gesprächskreis“ (MAGK) und der autonomen evangelischen Studentengemeinde Marburg (aESG).
„Die Wessis fielen immer wieder durch ihr zähes Herumdiskutieren auf.“ Dieser erste Eindruck relativierte sich mit der Zeit, doch dies war der befremdete Blick auf die in der Studentengemeinde erworbenen basisdemokratischen Strukturen. Diese, so kann man sagen, waren gewissermaßen auf landeskirchlichen Druck hin innerhalb der Studentengemeinde erworben worden. Weil ihm die Marburger ESG zu politisch geworden war, hatte das kurhessen-waldecksche Landeskirchenamt 1977 den Studentenpfarrer versetzt und die Arbeitskreise des Hauses verwiesen. Diese ließen sich aber nicht absprechen, Studentengemeinde zu sein und gründeten notgedrungen in selbst angemieteten Räumen die autonome ESG. Ohne hauptamtliche Mitarbeitern dazustehen, wurde nach und nach als besondere Chance zur Entwicklung basisdemokratischer Strukturen gesehen. Dabei wurde den einzelnen Arbeitskreisen der Gemeinde ein möglichst großer Freiraum zugestanden. Auch Gastgruppen konnten in den Gemeinderäumen tagen. Für Organisationsfragen war der sich wöchentlich treffende Gemeinderat zuständig; die maßgeblichen Entscheidungen traf die Gemeindeversammlung, bei denen nach dem Konsensprinzip entschieden wurde. Dies führte oft zu langen ermüdenden Debatten, half aber auch nach und nach einen effektiveren Diskussionsstil zu entwickeln. Die an dem Ost-West-Projekt interessierten Gemeindeglieder kamen vor allem aus zwei Friedenskreisen. Die Arbeit an friedenspolitischen Fragestellungen stellte das kommunistische Feindbild in Frage und weckte Neugier darauf, wie die Menschen „dort drüben“ sind. Für viele war die Fahrt nach Nordhausen der erste Besuch in der DDR.
Neue Interessierte kamen zu den Folgeseminaren auf Westseite fast ausschließlich aus der aESG, deren Infrastruktur auch für die von Marburg aus getätigten Anteile der Vorbereitungen genutzt wurde, bis das autonome Gemeindeprojekt 1991 mangels Nachwuchs beendet werden musste. Die ehemals nur Marburger Teilnehmern an den Ost-West-Seminaren wohnten zu diesem Zeitpunkt schon bundesweit verstreut.
Der organisatorische Rückhalt auf Nordhäuser Seite war der MAGK. Deren Vorläufer war eine im Rahmen der evangelischen Kirche bestehende Friedensgruppe, die sich 1985 auflöste, da eine Vielzahl ihrer Mitglieder aus Studien- und anderen Gründen die Stadt verließ.
Zwei Mitglieder dieser Gruppe, Susanne Aechtner und Elke Kramer, luden gemeinsam mit Pfarrerin Ursula Böttcher im Herbst 1985 jüngere Leute aus evangelischen und katholischen Zusammenhängen in die Altendorfer Kirche (Nordhausen) ein. Die Gruppe war interessiert an der Bearbeitung von religiös-kirchlichen sowie politischen Themen. Das Ziel war, einen Raum zu schaffen für Gedankenaustausch, gleichberechtigtes Diskutieren, für das Entwickeln von eigenen Meinungen und Ideen und für den Austausch wichtiger Informationen. Das war von Bedeutung, da es in der DDR außerhalb des familiären Rahmens wenig Diskussionszusammenhänge gab, die sich der staatlichen Kontrolle entziehen konnten.
Die meisten Mitglieder des Arbeitskreises hatten ihre Berufsausbildung oder ihr Studium beendet und arbeiteten in Nordhausen. Einige von ihnen hatten Kinder. Die Gruppe begann mit etwa gleicher Geschlechterverteilung, bestand später aber zum größten Teil aus Frauen.
Da das Interesse an der Auseinandersetzung mit o.g. Themenbereichen groß war und es auch keine vergleichbare Gruppe in Nordhausen gab, die kontinuierlich arbeitete, wurde der Mittwoch-Abend-Gesprächskreis gegründet. Die Gruppe arbeitete basisdemokratisch, mit je nach Thema wechselnden Verantwortlichkeiten. Es wurde für die wöchentlichen Treffen jeweils ein Themenplan für etwa ¼ Jahr erstellt. Themen wurden z.T. über mehrere Wochen bearbeitet, wobei neben Vorträgen und Diskussionen innerhalb der Gruppe auch Experten von außerhalb eingeladen wurden.
Themen waren z.B. Auseinandersetzung mit der Theologie Schleiermachers, Bachs Kantaten, gemeinsame Gottesdienst- und Andachtsgestaltung. Letztere auch zu politischen Themen.
Insgesamt lässt sich der Kreis der Teilnehmenden an den Ost-West-Seminaren als gesellschaftskritisch und politisch interessiert charakterisieren. Aus der BRD nahmen anfangs ausschließlich Studenten ohne Kinder teil, während es sich bei den Teilnehmern aus der DDR schon von Beginn an überwiegend um Berufstätige handelte, unter denen auch einige Familien mit Kindern waren. Der Kreis erweiterte sich mit der Zeit und es entwickelte sich ein fester Kern von Teilnehmern. Trotzdem war es stets ein offenes Projekt, zu dem mit jedem Seminar Neue hinzukamen.
Mit der wachsenden Zahl an Kindern im Teilnehmerkreis und durch die mit diesen gemachten Erfahrungen veränderte sich deren Rolle: Während anfangs eher eine Kinderbetreuung als „notwendige“ Arbeit getrennt vom Seminar geleistet wurde, wurde die Kindergruppe dann nach und nach für beide Seiten gewinnbringend in das thematische Programm mit einbezogen.
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