Brandenburger Tor, 9.November 1989

Akademie für Ost-West-Begegnungen

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Inhalte und thematische Akzentsetzung

Um einen Eindruck von den Inhalten der Seminare vermitteln zu können, sollen zwei Seminare vor der Wende näher beschrieben werden. Daran anschließen werden alle Seminare der ersten zehn Jahre des Projekts aufgelistet.

Thomas Müntzer: Revolutionär oder pietistischer Theologe?

Vom 13.-15.5.1988 fand in Nordhausen in den Gemeinderäumen der Altendorfer Kirchengemeinde das erste der Ost-West-Seminare zum Thema "Thomas Müntzer" statt. Auch wenn sein Geburtsdatum nicht eindeutig belegt ist, lässt sich dennoch sein 500jähriger Geburtstag in etwa auf 1988 schätzen. Der Vorschlag, sich angesichts dieses Jubiläums einmal genauer mit dieser Person zu beschäftigen, die auf östlicher und westlicher Seite eine so unterschiedliche Würdigung erfährt, ging auf den Nordhäuser Pfarrer Peter Kube zurück. Das Thema stieß bei den Teilnehmenden aus der DDR und der BRD auf besonderes Interesse, weil Thomas Müntzer in den Publikationen jeweils aus ganz unterschiedlicher Perspektive dargestellt und gewürdigt wurde. Bei den Veröffentlichungen fällt ins Auge, dass auf westlicher Seite mehr der pietistische Theologe betrachtet wird, als dies in den Publikationen aus der DDR der Fall ist. In der DDR-Rezeption wird dagegen ganz besonders der Revolutionär Thomas Müntzer herausgekehrt. Die Titelfrage konnte im Rahmen dieses Seminars nicht entschieden werden, deutlich wurde aber: Pauschalisierungen werden der vielschichtigen Person Müntzers nicht gerecht; es kommt auf das Detail an, so das Fazit.

Nachdem Referate gehalten wurden, die zur Person Thomas Müntzers sowie über seine Zeit eine Einführung gaben, bildeten sich unterschiedliche Arbeitsgruppen. Eine befasste sich z.B. mit dem 1521 verfassten "Prager Manifest". Er wendet sich darin an die böhmische Bevölkerung mit dem Aufruf, dass sie selber das lebendige Wort Gottes hören sollen. Scharf greift er die "Pfaffen und Mönche" an, denen die Erfahrung des lebendigen Gottes fehle und die lediglich die Worte der Schrift wiederholten. Er grenzt sich gegen Luthers Rechtfertigungslehre ab und betont: "Denn Gott redet allein in die Leiden der Kreatur hinein, welche die Herzen der Ungläubigen nicht haben." Müntzer erhoffte sich, dass durch seine Initiative von Böhmen ausgehend eine neue apostolische Kirche entstehen würde.

Eine andere Arbeitsgruppe setzte sich vergleichend mit dem Gewaltbegriff bei Thomas Müntzer und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie auseinander. Es wurde sehr kontrovers diskutiert, welches Mittel in welcher Situation angemessen sei und ob es überhaupt eine Rechtfertigung von physischer Gewalt geben kann. In vieler Hinsicht, sowohl zu Müntzers Zeit als auch bei den Lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen, gibt es Zusammenhänge, in denen dies als einzig möglicher Weg zum Beenden von Unrecht erscheint.

Ausgehend von dem sozialpolitischen Kontext Müntzers fragte eine andere Arbeitsgruppe, wer denn eigentlich die Hörerinnen und Hörer seiner Predigten waren. Die überwiegend unterdrückten Bevölkerungsschichten (Tuchknappen, Bergknappen, entwurzelte Handwerker, ...) waren von der Idee einer gerechten, göttlichen Ordnung fasziniert. Dabei stand die Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung gegenüber Müntzers Theologischen Ideen klar im Vordergrund.

Höhepunkt des Seminars war am Samstag Abend ein von den Nordhäuser vorbereitetes Fest, für das sie aus dem städtischen Theaterfundus Kostüme der Müntzerzeit ausgeliehen hatten.

In der abschließenden Reflexionsrunde wurde kritisch herausgestellt, dass die Teilnehmenden aus dem Westen viele Gesprächsrunden dominiert hätten. Für die Zukunft sei es angezeigt, die Gespräche gleichberechtigter zu führen. Positiv wurde herausgestrichen, dass aufgrund der vorab erstellten Textsammlung ein gemeinsamer Fundus an Wissen vorhanden war und dadurch qualitativ hochwertige Diskussionen möglich waren. Insgesamt wurde die thematisch ausgerichtet Ost-West-Begegnung als so spannend und gelungen empfunden, dass ein Folgetreffen vereinbart wurde.

LTI - sprachliche Gleichschaltung im Nationalsozialismus -ein Seminar zur Sprachregelungsmechanismen im "Dritten Reich" und den aus ihnen entstandenen Traditionslinien

1989 fand im evangelischen Kindergarten zu Nordhausen ein Seminar statt, das der Analyse der Sprache im Dritten Reich gewidmet war. Die überwiegende Zahl der Teilnehmenden hatte bereits an den ersten Ost-West-Seminaren teilgenommen.

Zur Einführung wurden noch einmal die wesentlichen Punkte der eigens für das Seminar erstellten Textsammlung, sowie Victor Klemperers philologisches Tagebuch "LTI" in einem Referat rekapituliert. Insbesondere Klemperers persönli­che und packende Schilderung des sprachlichen Verfalls hatte bei der vorbereitenden Lektüre großen Eindruck gemacht. Die zweite theoretische Grund­lage war eine neuere Untersuchung von Siegfried Bork.

In zwei Arbeitsgruppen wurden dann Texte aus der Zeit des Nationalsozia­lismus analysiert. Dabei wurde jeweils ein Text aus dem kirchlichen Bereich unter die Lupe genom­men. Bei dem "Deutschen Christen" Walter Künneth konnten die von Klemperer konsta­tierten sprachlichen Veränderungen in großem Umfang ausgemacht werden. Dies war wenig über­raschend; doch auch bei dem Kritiker der NSDAP und Mitglied der "Bekennenden Kirche", Mar­tin Niemöller, schlichen sich einige solcher Stilmittel ein. Offensichtlich, so wurde später in der Plenumdiskussion ange­merkt, können sprachliche Formen eingewöhnt werden, ohne dass dies bewusst und damit rational kontrollierbar sei.

In einer weiteren Textanalyse in Arbeitsgruppen wurden im letzten Schritt nun auch aktuelle Zeitungsartikel auf die Verwendung der NS-Stilmittel untersucht. In der Abschlussdiskussion äußerten die Teilnehmern und Teilnehmer, dass sie durch die vorangegangene sprach­liche Analyse die mo­dernen Texte mit ganz anderen Augen gesehen hätten. Zwar wurden die gleichgeschalteten rhetorischen Formen längst nicht mehr so häufig ausge­macht, durchzogen aber alle möglichst breit ausgewählten Publikationsorgane bis hin zu FAZ und Zeit. Gehäuft traten stilistische Parallelen in der Bildzei­tung und im „Neuen Deutschland“ auf. Die Mehrheit der Teilnehmenden äußerte, auch hinsicht­lich des eigenen Sprachge­brauchs einiges gelernt zu haben. Das geweckte sprachwissenschaftliche Interesse prägte auch die Auswahl des nächsten Seminarthemas, „Gewalt durch Sprache“.

Bei der Seminarkritik wurde angemerkt, dass die Zeit viel zu kurz war. So blieb für die Analyse aktueller Publikationen zu wenig Zeit. Mögliche Gegenstra­tegien konnten nur andiskutiert werden. Da die Zeitnot auch bereits beim vorherigen Seminar bemängelt worden war, wurde beschlossen in Zukunft das Seminar um einen Werktag zu verlängern. Dieser Vorschlag war von den Teilnehmern aus der DDR beim vorherigen Seminar unter Hinweis auf ihre wenigen kostbaren Urlaubstage abgelehnt worden. Die Bereitschaft diesen Tag nunmehr zu opfern, ist ein klares Indiz dafür, dass die Bedeutung des Begegnungsprojekts zumindest für die Teilnehmern aus der DDR gegenüber dem ersten Seminar gestiegen war.

Die Seminarthemen bis 1995:

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